ABARIS Angstambulanz ℠
Presse
Ex-Ärztekammerpräsident Ellis Huber zur Psychotherapie im Gesundheitssystem
PSYCHOTHERAPIE
21.08.2001
Im Interview: Ellis Huber über das deutsche Gesundheitssystem und den Wert der Psychotherapie für das soziale Bindegewebe
Psychotherapie für 5 Euro im Monat
Ellis Huber: "Aus dem Gefängnis des gegenwärtigen Systems selbstbewusst
ausbrechen — oder darin umkommen"
Von Dietmar Luchmann
Dr. med. Ellis Huber, 1949 in Waldshut (Schwarzwald) geboren, studierte von 1969 bis 1976 Medizin, Germanistik und Geschichte an der Uni Freiburg (Breisgau). Nach Tätigkeiten in Klinik und freiberuflicher Praxis war er von 1981 bis 1986 Gesundheitsstadtrat der Berliner Bezirke Wilmersdorf und Kreuzberg und von 1987 bis 1991 Leiter der Abteilung Gesundheitliche und soziale Dienste beim Paritätischen Wohlfahrtsverband Berlin e.V. Im Jahr 1987 wurde Ellis Huber zum Präsidenten der Berliner Ärztekammer gewählt. Als pointierter Kritiker seiner monetär interessierten und konservativ orientierten Standeskollegen hatte er dieses Amt nach der Wiederwahl 1990 und 1994 bis zum 27.01.1999 inne. Vom 01.04.1999 bis zum 30.06.2001 war er Geschäftsführer der Securvita GmbH in Hamburg, der Trägerfirma der BKK. Seit dem 01.07.2001 ist Ellis Huber Vorstand der SECURVITA BKK, die als kleine Krankenkasse für die Anerkennung der alternativen Medizin kämpft und sich gegen die Bürokratie reformunwilliger Kassenverbände und Aufsichtsbehörden erfolgreich durchsetzt. 1993 veröffentlichte Ellis Huber das Buch "Liebe statt Valium", in dem er für einen Wandel der Medizin wirbt: Apparate und Pillen können nicht Krankheiten heilen, die zunehmend durch soziale und Umweltursachen hervorgerufen werden. "Das Menschenbild aus dem 19. Jahrhundert, die Körpermaschine, wird abgelöst von einer ganzheitlichen Sicht des Menschen mit Körper, Seele, und Lebensumfeld", schreibt Ellis Huber. Der Visionär und Reformer lebt für ein Programm, das Patienten und Behandler als Menschen ernst nimmt. [Vorstehender Originaltext aus "PSYCHOTHERAPIE"]
Das Interview mit Ellis Huber führte Dietmar Luchmann, Psychotherapeut und Leiter der ABARIS Angstambulanz℠ Stuttgart. In der Zeitschrift "PSYCHOTHERAPIE" wurde es am 21.08.2001 veröffentlicht.
Ellis Huber:
"Ein Drittel der Ärztinnen und Ärzte sind zynische
Egoisten, denen das Schicksal ihrer Patienten völlig egal geworden ist"
PSYCHOTHERAPIE: Herr Dr. Huber, als Präsident der Berliner
Ärztekammer haben Sie mit ausgeprägtem Gespür für eine sozial verantwortliche
Gesundheitspolitik zwölf Jahre leidenschaftlich Systemfehler und Profitorientierung
im Gesundheitsbetrieb kritisiert. Seit dem 1. Juli sind Sie selbst Vorstand
einer Krankenkasse, der SECURVITA BKK. Ihre "Kasse für Ganzheitlichkeit"
wird von Umweltorganisationen wie BUND und World Wide Fund For Nature empfohlen
und gilt wegen ihrer Orientierung auf die sanfte und natürliche Medizin
als "Shooting Star" der Branche. Was kann eine Krankenkasse bewegen
in einem System, das "offensichtlich von den Profitinteressen der medizinischen
Industrie und der etablierten Standesfürsten stärker beeinflusst (ist) als
von sachlichen Erwägungen einer sinnvollen Krankenversorgung", wie
Sie feststellten, als Sie dem Vorsitzenden des Bundesausschusses der Ärzte
und Krankenkassen "gesundheitsgefährdende Machtausübung" bei der
Verschleppung der Akupunktur-Zulassung vorwarfen?
Ellis Huber:
Es sind immer Menschen, die etwas bewegen und schlechte Verhältnisse zum
Positiven wenden können. Bei der SECURVITA BKK habe ich eine kreative und
engagierte Mannschaft getroffen, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die von
ganzem Herzen und mit viel fachlicher Courage für die Mitglieder der Krankenkasse
eintreten und damit eine wirkliche Community, eine solidarische Gemeinschaft
gestalten.
Dient das Gesundheitswesen dem Kapital mit seinen Interessen
oder der Bevölkerung mit ihren Bedürfnissen, dies ist die zentrale Frage,
die gesellschaftspolitisch entschieden werden muss. Das heutige System ist
krank und in weiten Bereichen korrupt. Zwischen Ethik und Monetik werden
der kleine Therapeut und der kleine Klient zerrieben. Die Profiteure des
jetzigen Systems bedienen sich weiterhin. Der ungelöste Konflikt um die
Gesundheitspolitik hat viel mit dem Gegensatz von Haben und Sein zu tun,
also mit einer grundsätzlichen Werteorientierung zwischen egoistischem und
solidarischem Handeln.
Ich möchte eine Gesundheitsversorgung realisieren,
in der die Beteiligten sozial verantwortlich handeln und sich an den klassischen
humanen Werten orientieren. Dazu braucht es ein professionelles Management
der Versorgung und ein völlig neues Miteinander zwischen Krankenkassen,
Ärzten und Therapeuten, Krankenhäusern und allen anderen Dienstleistern
im Gesundheitswesen. Etwa ein Drittel der Ärztinnen und Ärzte sind zynische
Egoisten, denen das Schicksal ihrer Patienten völlig egal geworden ist.
Sie denken nur an sich und machen Therapien, deren Unsinn sie von vornherein
bereits kennen. Ein weiteres Drittel umfasst frustrierte und prinzipienlose
Opportunisten, die im System mitschwimmen und versuchen, einigermaßen über
die Runden zu kommen und das schlechte Gewissen durch Freude an Status und
Ansehen zu kompensieren.
Ein Drittel der Therapeuten will tatsächlich
sozial verantwortlich tätig sein und ein preiswertes Gesundheitssystem umsetzen,
das die Menschen respektiert, ihnen wirklich hilft und auch das soziale
Bindegewebe schützt. Mit diesem Drittel ist eine Gesundheitsreform umzusetzen
und ein menschliches Gesundheitswesen zu verwirklichen. Eine Krankenkasse
kann solche Kräfte im Gesundheitswesen unterstützen und mit ihnen unmittelbar
zusammenarbeiten. Es ist natürlich klar, dass die mächtigen Institutionen
im bestehenden System, solches nicht wollen und mit einem Terror der Bürokratie
und der Ignoranz gegenüber beispielsweise ganzheitlichen Heilmethoden antworten.
Alle wissen, dass der Bundesausschuss Ärzte und Krankenkassen nicht mehr
sachbezogene Entscheidungen trifft, sondern nur die Interessen der Geldverteilung
schützt. Es ist ein politischer Fehler diesem Gremium so viel Macht zuzuordnen
und damit die destruktiven Verhältnisse zu zementieren.
PSYCHOTHERAPIE:
Die Psychotherapie gilt als zutiefst natürliche Heilmethode, weil sie zum
Beispiel allein durch Veränderung fehlerhaften Denkens psychische Blockaden
zu lösen vermag, die psychosomatische Beschwerden verursachen. Sie aktiviert
auf natürliche Weise Ressourcen und Selbstheilungskräfte, die in jedem von
uns vorhanden sind. Welchen Stellenwert nimmt die Psychotherapie bei der
SECURVITA BKK ein?
Ellis Huber: Die Globalisierung und die
Individualisierung in unseren Gesellschaften führt dazu, dass die sozialen
Bezüge geschwächt werden und die Bindungen zwischen den Menschen abnehmen.
Es kommt zu einer Atomisierung der Gesellschaft und einer Krankheit des
sozialen Bindegewebes, die eine neue Heilkunst benötigt. Selbst Ökonomen
glauben heute, dass psychosoziale Gesundheit zum Schlüssel für künftige
gesellschaftliche Produktivität wird. Psychosoziale Gesundheit meint nicht
die Gentechnologie oder die Molekularbiologie, sondern die Fähigkeit von
Menschen, vernünftig miteinander umzugehen und sich gegenseitig zu respektieren.
Gesellschaft als kooperatives Gefüge autonomer Individuen, die ihre
soziale Verantwortlichkeit nicht leugnen, benötigt die Professionalität
und Kompetenz der Psychotherapie. Eine Krankenkasse für Ganzheitlichkeit
hat sicherlich höhere Ausgaben für die psychosoziale Gesundheit zu verzeichnen
als herkömmliche Kassen. Dies ist gut so, denn eine Zweiklassenmedizin zeigt
sich heute darin, dass die Reichen die Zuwendung erhalten und die Armen
die Pillen.
PSYCHOTHERAPIE: Wie hoch ist der Kostenanteil
für Psychotherapie bei ganzheitlicher Betrachtung tatsächlich?
Ellis Huber: Die Ausgaben der SECURVITA BKK für Psychotherapie sind
überdurchschnittlich hoch. In manchen Regionen fließen mehr als 20 Prozent
unserer Kassenausgaben in die Psychotherapie. Und in der Tat ist die Kostenexplosion
für psychosoziale Dienste für diese Kasse, die sich für eine ganzheitliche
Medizin stark macht, ein Problem. Ein angemessenes Honorar für qualifizierte
und sozial verantwortlich tätige Psychotherapeuten beträgt aus meiner Sicht
80.000 bis 100.000 Euro vor Steuern im Jahr. 20.000 Psychotherapeuten kosten
als Arbeitskraft damit rund zwei Milliarden Euro. Dies entspricht einem
Geldvolumen, das heute im Bereich der Arzneimitteltherapie für bezahlte
aber nicht eingenommene Arzneien, also für den Arzneimittelmüll aufgewendet
wird.
Psychotherapeutische Leistungen erhalten im System der gesetzlichen
Krankenversicherung nicht den Stellenwert und das Finanzierungsvolumen,
das für eine moderne Gesundheitsversorgung notwendig wäre. Gleichzeitig
sehen wir aber auch, dass die gesetzlichen Rahmenbedingungen für die Finanzierung
der Psychotherapie vergleichbar korrumpierende Effekte entfalten wie für
die ärztliche Versorgung auch. Ein geschickter Therapeut hat keine Schwierigkeit,
über mich ein Gutachten zu erstellen, das mich als therapiebedürftig qualifiziert.
Die Psychotherapeuten einzeln und in Gemeinschaft müssen daher ein höheres
Maß an sozialer Verantwortlichkeit aufbringen, wenn sie langfristig und
nachhaltig ihre Interessen verteidigen wollen. Mein Eindruck ist, dass die
egoistische Selbstgerechtigkeit zunimmt und die Existenzkrisen, die vom
System produziert werden, als zynische Aggression gegen die Bevölkerung
ausagiert werden.
Ich empfehle gegen diese Symptome eine hinreichende
Investition von Geld in eine sozial verantwortliche Psychotherapie. Dies
wäre mehr Geld, als heute von den Krankenkassen dafür ausgegeben wird. Es
müsste jedoch ein anderes Honorarsystem umgesetzt werden und der einzelne
Therapeut muss sich öffnen, seine Leistungen transparent machen und sich
auch in einem Supervisionskontext der sozialen Verantwortlichkeit stellen
und am Ausgleich zwischen individueller und sozialer Gesundheit mitarbeiten.
Ellis Huber:
"Ich selbst war erschrocken, wie das Psychotherapeutengesetz
aus autonomen Menschen abhängige und devote Knechte gemacht hat"
PSYCHOTHERAPIE: Eine effektive Psychotherapie wie Verhaltenstherapie
überschreitet heute selten 25 Therapiestunden, bei einigen Erkrankungen
genügen regelhaft 15 Stunden zum Erfolg. So war es vernünftig, dass in der
Vergangenheit jede Krankenkasse ihren Versicherten unaufwendig Kurzzeitpsychotherapie
genehmigen konnte. Seit dem 1. Januar 2000 hat der Bundesausschuss für Ärzte
und Krankenkassen die bislang gutachterfreie Kurzzeitpsychotherapie mit
dem Scheinargument der Qualitätssicherung dem aufwendigen Gutachterverfahren
unterworfen. Effektive Psychotherapeuten, die ihre Patienten innerhalb von
25 Stunden kostengünstig zum Erfolg führten und in der Vergangenheit keine
Langzeittherapien benötigten, werden jetzt gezwungen, rund drei Stunden
für die Beantragung jeder Kurzzeitpsychotherapie aufzuwenden. Psychotherapeuten,
die hingegen immer lange und teure Therapien durchführten, können sich unter
Hinweis auf ihre bislang genehmigten Langzeitanträge von der Gutachterpflicht
befreien lassen. Dabei ist der Wert des umstrittenen Gutachterverfahrens
in den vielen Jahren seiner Anwendung nicht ein einziges Mal nachgewiesen
worden. Überdies erklärte der Psychoanalytiker und Leiter der Abteilung
Psychotherapie und Psychosomatische Medizin der Universität Ulm Horst Kächele
eine Psychotherapie als kurz, wenn sie 700 Stunden nicht überschreite. Haben
die Lobbyisten der Ärzte und Psychoanalytiker das System so sehr im Griff,
dass die Vernunft in der psychotherapeutischen Versorgung völlig Kopf steht?
Ellis Huber: Bei der SECURVITA BKK werden Anträge auf Verhaltenstherapie
eingereicht, die nach 120 Stunden nochmals eine Verlängerung von 30 Stunden
beanspruchen. Die individuellen Krankheitskarrieren legen oftmals nahe,
dass Psychotherapeuten von einer lebenslangen Behandlungsnotwendigkeit ausgehen.
Im Gutachterverfahren haben sich, wie alle wissen, längst Kartelle und Seilschaften
gebildet, die effektive Pfründesicherung und Ressourcenakquisition betreiben,
aber nicht mehr Qualitätsentwicklung und echte Mitmenschlichkeit.
Ich selbst war erschrocken, wie das Psychotherapeutengesetz aus autonomen
Menschen abhängige und devote Knechte gemacht hat. Mehr und mehr erlebte
ich Psychotherapeuten, die sich nur noch darum kümmerten, wie sie zu ihrem
Geld kommen, und nicht mehr darum, was ihre inhaltliche Aufgabe ist. Ein
Psychotherapeut, der seine eigene Autonomie an den Türen der Standesfunktionäre
und der Kassenpfründe abgibt, wird nicht mehr Autonomie für seine Klienten
erreichen können. Die Psychotherapie hat sich freiwillig in die Sklaverei
des Systems begeben und sie verliert darin, nach meiner Wahrnehmung, ihre
inhaltliche Substanz.
Die heutigen Kosten für psychotherapeutische
Behandlungen im Gesundheitswesen der Bundesrepublik Deutschland entsprechen
einem Krankenkassenbeitrag von circa drei bis fünf Euro Monatsprämie. Es
geht also nicht um das Geld, wenn die psychotherapeutische Arbeit zu gering
honoriert wird. Wenn die Community der Psychotherapeuten gesellschaftlich
selbstbewusst aufträte, würde sie die Menschen überzeugen, dass drei bis
fünf Euro Versicherungsbeitrag für die Krankheiten der Seele vernünftig,
sinnvoll und notwendig sind. Statt einer Unterwerfung unter das bestehende
System empfehle ich den selbstbewussten Aufbau eines eigenständigen und
unabhängigen Versorgungsgefüges. Dafür suche ich Mitstreiter und Psychotherapeuten,
die es leid sind, das eigene Rückgrad zu verbiegen.
Es ist heute
klar, dass nicht allein die Methode über den Erfolg einer Psychotherapie
entscheidet, sondern auch die Persönlichkeit des Therapeuten. Der Methodenstreit
ist in Wirklichkeit eine Pfründekonkurrenz und die gesundheitspolitischen
Abgrenzungen sind letztlich Machtkämpfe. Verantwortlich und gesund wäre
es, wenn alle Therapeuten ihre Erfahrungen mit unterschiedlichen Methoden
offen austauschten, von einander lernten und kontinuierlich in einem unvoreingenommenen
Diskurs die psychosoziale Gesundheitslage verbessern würden. Ständiges gegenseitiges
Lernen erfordert eine neue Mitte zwischen Bescheidenheit und Selbstvertrauen,
Egoismus und Kollegialität. Der Psychotherapeut übt einen sozialen Beruf
aus. Wenn er dies vergisst, hat er auf Dauer keine Daseinsberechtigung und
kann nicht erwarten, dass Solidargemeinschaften seine materielle Existenz
sichern.
PSYCHOTHERAPIE: Bundesgesundheitsministerin Ulla
Schmidt (SPD) möchte die Hausärzte als Lotsen im Gesundheitssystem. Experten
und Patienten sind jedoch hochskeptisch und auch einschlägige Untersuchungen
sprechen gegen ein Hausarztsystem. Hans-Ulrich Wittchen vom Max-Planck-Institut
für Psychiatrie in München stellte am 25. Juni diesen Jahres die weltweit
größte Untersuchung zur generalisierten Angststörung in der primärärztlichen
Versorgung vor, an der 558 Ärzte und 20.000 Patienten teilnahmen. Das erschreckende
Ergebnis aus der hausärztlichen Versorgungsrealität lautete: Nur ein Drittel
der generalisierten Angststörungen wurde von den Hausärzten erkannt, nur
16 Prozent der betreffenden Hausarzt-Diagnosen waren richtig und nur ein
verschwindend geringer Bruchteil der Betroffenen wurde überhaupt richtig
behandelt. Das Beispiel der Angststörung verdeutlicht, dass psychische Erkrankungen,
die durch effektive Psychotherapie in durchschnittlich 15 Stunden erfolgreich
zu beheben sind, gerade durch Hausärzte über Jahre kostentreibend verschleppt
werden. Wie sehen Sie Vor- und Nachteile eines Hausarztsystems im Hinblick
auf psychische Störungen und wie könnte eine effizientere Lösung aussehen?
Ellis Huber: Die kapitalistische Medizin kolonialisiert die Körper
der Menschen. Was dem Profit dient wird auch gemacht. Information und Kommunikation
im System sind den monetären Interessen unterworfen und über Sinn und Unsinn
medizinischer oder therapeutischer Dienste gibt es keine Transparenz. Ein
modernes Gesundheitssystem mit sozialer Verantwortlichkeit versteht sich
selbst als lernende Organisation. Der Kampf der Hausärzte um eine Lotsenfunktion
im Gesundheitswesen ist ein geschickter Versuch, machtpolitisch mehr Einfluss
zu erreichen ohne mehr Verantwortung im Gesundheitswesen übernehmen zu müssen.
Es gibt vortreffliche Hausärzte ebenso wie vortreffliche Psychotherapeuten.
Diese sind in der Lage, kranke Menschen zu begleiten und ihnen ein verlässlicher
Begleiter im Umgang mit dem medizinischen System zu sein. Einen Arzt oder
Psychotherapeuten des persönlichen Vertrauens benötigen die Menschen in
der jetzigen Situation mehr als je zuvor. Sie können sich auf das Gesundheitswesen
nicht mehr verlassen und ihr vorherrschendes Bedürfnis ist es, sich in guten
Händen zu wissen. Es geht also nicht um die Frage Hausarzt oder andere Helfer,
sondern um die Einstellung der Therapeuten zu ihrer Aufgabe. Moderne Hausärzte
kommunizieren mit allen anderen offen und sie haben keinen Ausschließlichkeitsanspruch.
Solche Hausärzte würden Angststörungen nicht verdrängen, sondern im Dialog
mit Psychotherapeuten das Problem wahrnehmen und neu gewichten. Nicht die
Vor- oder Nachteile eines Hausarztsystems sind also das Problem, sondern
die Beziehungsfähigkeit von primären Ansprechpartnern für Menschen, die
im Krankheitsfalle Hilfe und Unterstützung benötigen.
Ellis Huber:
"Psychotherapiehonorare sind nicht das Dilemma,
sondern das Festhalten der Psychotherapeuten am perversen System"
PSYCHOTHERAPIE: Die Fähigkeit, das Gesundheitssystem neu zu
denken, dürfte die Machtfrage bei den nächsten Bundestagswahlen entscheiden",
prophezeiten Sie 1997. So geschah es. Ex-Bundesgesundheitsminister Horst
Seehofer (CSU) proklamierte zwar den "mündigen Versicherten" und
schuf mit der Kostenerstattung für alle Kassenversicherten im selben Jahr
eine Nottür für jene Leistungen, die mangels Kostendeckung nicht mehr ausreichend
angeboten wurden. Dazu gehörte auch die Psychotherapie. Weil die Regierung
von CDU/CSU und FDP im Kern jedoch bei der Budgetierung blieb und
die strukturellen Mängel des Gesundheitssystems nicht behob, scheiterte
sie. Die Koalition aus SPD und Bündnis90/Die Grünen schaffte 1999 als erste
gesundheitspolitische Entscheidung die Kostenerstattung für Pflichtversicherte
ab. Nachdem für 50 Minuten nicht-genehmigungspflichtige Psychotherapie im
1. Quartal 2000 bei der AOK Berlin nur 1,74 DM gezahlt wurde, war das Honorar
im 4. Quartal 2000 bei den AOK, IKK und BKK in Sachsen sogar bei Null Pfennig
angelangt. Ihre Prophezeiung von 1997 könnte ebenso bei der Bundestagswahl
2002 zutreffen, wenn die Gesundheitspolitik Wahlkampfthema wird. Was aber
empfehlen Sie Versicherten heute, die vor dem Hintergrund solcher Null-Honorare
keinen ernstzunehmenden Psychotherapeuten mehr finden?
Ellis Huber:
Es ist kein Problem, im bestehenden System Psychotherapeuten mit einem Stundensatz
von 145 DM oder 75 Euro zu finanzieren, wenn sie im Gegenzug der psychosozialen
Gesundheit der Gesellschaft wirklich dienen und den einzelnen Menschen nicht
als Objekt ausbeuten. Das jetzige Honorarsystem ist nicht mehr diskussionswürdig.
Die dadurch verursachte Atomisierung der Beziehungen zwischen Therapeuten,
Ärzten und Patienten zeigt, dass dieses Organisationsmuster bösartig ist
und weg muss. Die Honorare für Psychotherapie sind also nicht das Dilemma,
sondern die Tatsache, dass Psychotherapeuten an diesem perversen System
weiter festhalten und um Punktwerte kämpfen statt um die Anerkennung der
Psychotherapie in dieser Gesellschaft.
Die Politiker sind gegenwärtig
überfordert, Lösungen zu finden. Ein soziales Gesundheitssystem ist auf
ein neues kooperatives Miteinander von Krankenkassen, Ärzteschaft, Psychotherapeuten
und Politik angewiesen. Es ist letztlich eine gemeinsame Aufgabe, die es
zu bewältigen gilt. Der blödsinnige Streit zwischen Sachleistung und Kostenerstattung
geht ebenfalls am Problem vorbei. In der SECURVITA BKK ist deutlich sichtbar,
wie Kostenerstattungssysteme von gewissenlosen Anbietern missbraucht werden
und dieses Instrument mit Heilversprechen benutzt wird, um Kasse zu machen.
Ich will nicht ausschließen, dass die Situation im Gesundheitswesen zu einem
entscheidenden Wahlkampfthema im nächsten Jahr wird. Beim Zustand der heutigen
Opposition ist allerdings zu bezweifeln, dass dies die Machtlage grundlegend
verändert. Krankheiten machen vor Parteigrenzen nicht Halt und ein neues
Gesundheitswesen hat bisher keine der politischen Parteien wirklich auf
der Agenda.
PSYCHOTHERAPIE: Das 1999 nach über 20-jährigem
politischen Gezerre in Kraft getretene Psychotherapeutengesetz hat die Psychologischen
Psychotherapeuten zu vollwertigen Mitgliedern der Kassenärztlichen Vereinigungen
und gleichzeitig zu Abhängigen vom Wohlwollen der ärztlichen Mehrheit bei
der Honorarverteilung gemacht. War diese Integration der Psychotherapeuten
ein Fehler?
Ellis Huber: Ich sehe keine Integration der Psychotherapeuten,
sondern eine geglückte Unterwerfung unter ein desolates und längst marodes
Regime. Die Kassenärztlichen Vereinigungen decken tagtäglich soziale Verantwortungslosigkeit
bei ihren Mitgliedern und haben ihren gesetzlichen Auftrag verraten. Der
Sicherstellungsauftrag der Kassenärztlichen Vereinigungen bezieht sich nicht
auf ein Honorarsystem und eine Honorarverteilung, sondern auf eine Versorgungsaufgabe.
Die Psychotherapeuten sind freiwillig in dieses Imperium eingetreten und
sie werden darin umkommen.
PSYCHOTHERAPIE: Was tragisch für
die psychosoziale Gesundheit wäre. Wissenschaftliche Untersuchungen und
unabhängige Berater – wie beispielsweise die Verbraucherzentralen
im "Ratgeber Psychotherapie" – weisen darauf hin,
dass für jeden in effiziente ambulante Psychotherapie investierten Euro
an anderen Stellen des Gesundheitssystems neun Euro gespart werden. Warum
gelingt es nicht, diese attraktive Rendite im Gesundheitssystem in dem Umfang
zu realisieren, wie es möglich und im gesamtgesellschaftlichen Interesse
wünschenswert ist?
Ellis Huber: Im System geht es eben nicht
um Bevölkerungsrenditen und eine preiswerte Versorgung im Ganzen. Psychotherapie
schafft keine profitable Rendite für Aktienbesitzer und die medizinische
Industrie. Die Krankheit des Gesundheitssystems ist eine Krebszellökonomie.
Das politische Ziel im Unternehmen Gesundheit für Deutschland lautet: Preiswerte
Gesundheit für alle Bürgerinnen und Bürger. Wenn dieses Ziel ernsthaft verfolgt
wird, müssen alle Beteiligten, Ärzte, Krankenhäuser oder Krankenkassen als
Subsysteme sich dem Gesamtnutzen unterordnen. Das Versorgungsmanagement
hätte Ressourcen sparende Versorgungsprozesse sicherzustellen und dafür
zu sorgen, dass der einzelne Arzt oder Psychotherapeut seine Arbeit gut
machen kann und die ökonomischen Anreize müssten so gesetzt werden, dass
ein Teil nicht die Gesundheit des Ganzen zerstören kann.
Die heutigen
Honorarsysteme sind lukrativ für eine Arztpraxis oder einen Krankenhausträger,
wenn sie das Gesamtsystem rücksichtslos ausschöpfen und ohne Rücksicht auf
die anderen ihre betriebswirtschaftliche Aggression austoben. Die Abstimmungen
zwischen Gesamtzielen im Gesundheitswesen und Teilzielen funktioniert nicht
und dies lässt sich verändern.
Ellis Huber:
"Psychotherapeuten müssen lernen, sich von einem
Imperium zu verabschieden, das sie gleichermaßen unterwirft und korrumpiert"
PSYCHOTHERAPIE: Etwa die Hälfte aller Beschwerden, die Patienten
und Klienten in die Praxis eines Hausarztes führen, haben psychische Ursachen.
Im heutigen System mindern erfolgreiche Psychotherapeuten zwangsläufig einen
beträchtlichen Teil des ärztlichen Umsatzes. Ist es in Anbetracht dieser
gegenläufigen wirtschaftlichen Interessen von Ärzten und Psychologischen
Psychotherapeuten nicht ein Anachronismus, eine Sicherstellung der psychotherapeutischen
Versorgung von den Kassenärztlichen Vereinigungen zu erwarten, die die Psychotherapie
vielfach nach Kräften platt machen?
Ellis Huber: Die Frage
zeigt überdeutlich, wie inzwischen die Psychotherapeuten vom Honorarverteilungsvirus
so infiziert werden, dass sie nur in Verteilungsmustern denken können. Unter
dem bestehenden System ist es der aggressive Konkurrenzkampf um Ressourcen,
der Ärzte und Psychologische Psychotherapeuten spaltet und zu Feinden macht.
In einem anderen System könnten Ärzte und Psychologische Psychotherapeuten
kooperieren, ihre gegenseitige Kompetenz als Synergie nutzen und im wechselseitigen
Austausch eine bessere Versorgung praktisch umsetzen. Beide Seiten, Ärzteschaft
sowie Psychologische Psychotherapeuten müssen lernen, sich von einem Imperium
zu verabschieden, das sie gleichermaßen unterwirft und korrumpiert. Wenn
Krankenkassen und Therapeuten eng zusammenwirken, sind Zwangskartelle wie
Kassenärztliche Vereinigungen völlig überflüssig.
PSYCHOTHERAPIE:
In Nord-Württemberg ist vor kurzem der Versuch reaktionärer Kassenarztfunktionäre
gescheitert, mit dem Medi-Verbund mehr Wettbewerb und Effizienz im Gesundheitswesen
zu verhindern. Am 24. Juli 2001 hat das Landessozialgericht Stuttgart der
Kassenärztlichen Vereinigung die Beteiligung an dem Ärztenetz und die Behinderung
neuer Formen zur Integrationsversorgung oder Disease Management-Projekten
untersagt. Inzwischen hat der Vorsitzende des Bundestags-Gesundheitsausschusses,
Klaus Kirschner (SPD), in der "Süddeutschen Zeitung" am 1. August
2001 die Kassenärztlichen Vereinigungen insgesamt in Frage gestellt, sie
hätten sich "in der jetzigen Form überlebt". Die Tür steht somit
weit offen für neue Versorgungsformen, z.B. im Bereich der Psychotherapie,
wo die Kluft zwischen den nach wissenschaftlichem Stand kostengünstig möglichen
Therapieerfolgen und der teuren Versorgungsrealität beispiellos extrem ist.
Wann wird eine Krankenkasse oder ein Kassenverband den Versicherten ein
eigenes bundesweites Psychotherapie-Netzwerk mit Psychotherapeuten anbieten,
die es als eigenes Bedürfnis ansehen, die Ergebnisqualität ihrer Arbeit
einer Kontrolle zu unterziehen?
Ellis Huber: Ich glaube, dass
die Zeit für eine solche Perspektive reif ist. Vielleicht geht es nicht
um ein bundesweites Psychotherapie-Netzwerk, sondern um ein Netzwerk von
Gesundheitstherapeuten, in dem Ärzte, nicht-ärztliche Psychotherapeuten
und andere Gesundheitsberufe selbstverständlich zusammen wirken, sich gegenseitig
unterstützen, sich austauschen und gemeinsame Versorgungsziele verfolgen.
Die gesetzliche Regelung einer integrierten Versorgung im §140 SGB V lässt
solche Perspektiven heute schon zu. Sie scheitert gegenwärtig an der Angst
von einzelnen Krankenkassen und am Wissen der Kassenärztlichen Vereinigungen,
dass sie in einer integrierten Versorgung überflüssig wären. Der Medi-Verbund
ist keine Alternative zur Kassenärztlichen Vereinigung, sondern tatsächlich
der Versuch reaktionärer Kassenarztfunktionäre, die schwindende Macht der
KVen durch ein neues Kartell zu ersetzen und die Ärzte als Kampfbund gegen
den Rest der Welt zu einen.
Das berufsständische Denken ist ein Relikt
der Vergangenheit und in der Kommunikationsgesellschaft nicht mehr durchzusetzen.
Die Menschen gucken nicht mehr auf den Stand, sondern auf die Leistungen
und die Ergebnisse, die ein Dienstleistungsangebot erbringt. Die Kommunikationstechnologie
wird die Verhältnisse zwischen den Berufsgruppen und das Verhältnis zwischen
Patient und Arzt oder Klient und Therapeut grundlegend verändern. Selbstbewusste
Menschen sind neugierig auf ihre eigene Produktivität und es ist ihnen ein
inneres Bedürfnis die Ergebnisse ihres Tuns immer zu reflektieren und zu
verbessern. Qualitätsmanagement ist also gesund und berufständischer Egoismus
ist krank!
PSYCHOTHERAPIE: Gesundheitspolitiker, Vertragsärzte
und Psychotherapeuten diskutieren zunehmend die Aufspaltung in Pflicht-
und Wahl-Leistungen. Der rheinland-pfälzische Sozialminister Florian Gerster
(SPD), selbst Diplom-Psychologe, fordert die Abschaffung von tiefenpsychologischer
und psychoanalytischer Psychotherapie auf Krankenschein. Zudem vermag ein
Klient in kaum einem Bereich des Gesundheitswesens sein Befinden so gut
selbst beurteilen wie in der Psychotherapie. Wäre es angesichts des schwer
trocken zu legenden Sumpfes von psychoanalytischen und psychotherapeutischen
Lobbyisten und Gutachtern, die echte Qualitätssicherung in der Psychotherapie
verhindern, möglicherweise ein Gewinn für die Versorgung, Psychotherapie
gänzlich aus dem Pflichtkatalog auszugliedern?
Ellis Huber:
Europa besitzt eine über 100 Jahre alte Kultur der sozialen Integration
über sozial verpflichtete Gesundheitssysteme. Dies unterscheidet England,
Frankreich, Italien oder Deutschland produktiv von den Vereinigten Staaten
von Amerika. Die europäische Fähigkeit zum Ausgleich zwischen Individuum
und Gesellschaft ist ein nachhaltiger Produktivfaktor, dessen Bedeutung
in der Zukunft erkannt werden wird. Denn die solidarische Absicherung der
Gesundheitsrisiken und die Gestaltung eines sozialen Gesundheitswesens kennzeichnen
eine europäische Perspektive, die eine beispielhafte ökosoziale Gestaltung
der Gesellschaft ermöglicht.
Das soziale Gesundheitssystem stabilisiert
die Zivilgesellschaft und hält, wie sozialer Kitt, das Gemeinwesen zusammen.
Diese politische Heilkunst gegen den Verfall der sozialen Bindungen unter
den Verhältnissen der Globalisierung und Individualisierung dürfte sich
langfristig als ökonomischer Vorteil erweisen und durchsetzen. Es sind aber
nicht die Gentechnologie oder Molekularbiologie, also die Reparaturfabriken
für Körpermaschinen, die über die Zukunft moderner Gesellschaften entscheiden,
sondern die soziale Kohärenz und die Kultivierung des humanen Kapitals.
Das Wachstum der Gesundheitswirtschaft sollte daher auch mehr auf menschliche
Dienstleistungen und weniger auf technologische Highlights setzen.
Das Gesundheitswesen ist Teil der sozialen Kultur und nicht Teil einer
am Shareholder Value fixierten Wirtschaft. Gesundheit ist eine gesellschaftliche
Ressource und die Investition in Psychotherapie schafft mehr Arbeitsplätze
als die Produktion von noch mehr Computertomographen irgendwo auf der Welt.
Ein soziales Gesundheitssystem muss die inklusiven, also die integrierenden
Kräfte des Gemeinwesens stärken und kranke Menschen unabhängig von ihrer
sozialen Lage und ihrer Kaufkraft unterstützen. Gute gesellschaftliche Gesundheit
braucht daher eine Pflichtversicherung oder eine Versicherungspflicht für
alle Bürgerinnen und Bürger, mit dem der Regelbedarf von gesundheitlicher
Dienstleistung finanziert wird. Die Versicherungen sollten frei gewählt
werden können und müssten jeden aufnehmen. Die Diskriminierung von einzelnen
mit besonderen Risiken muss strafrechtlich verfolgt werden.
Es geht
also um eine soziale Regelversorgung, die individuelles und allgemeines
Wohl verknüpft und ein Community-Bewusstsein in der Bevölkerung wach hält.
Letztlich tut es allen gut, wenn man für die Kranken und Schwachen gemeinsam
einsteht. Die Abgrenzung einer Regelversorgung von einer Wahlmöglichkeit
ist unverzichtbar notwendig, da Menschen individuelle Bedürfnisse und soziale
Pflichten besitzen.
Beim Herzstillstand ist unabhängig vom individuellen
Bedürfnis die medizinische Intervention ziemlich klar festgelegt. Ebenso
lässt sich bei einer Ehekrise der Bedarf an therapeutischer Zuwendung beschreiben.
Bedarf sind all die Leistungen, die im Krankheitsfall unabhängig von individuellen
Bedürfnissen nachweislich wirksam sind. Ärztliche Erfahrung und wissenschaftliche
Erkenntnisse fließen in die Definition dieses Leistungsspektrums ein. Die
Grenze zwischen Bedarf und Bedürfnis ist jedoch kein Naturgesetz, sondern
eine politische Setzung, die einen kontinuierlichen Diskurs um die Grenze
zwischen Bedarf und Bedürfnis voraussetzt.
Das Thema Gesundheit beschreibt
einen allgemeinen Bedarf, der solidarisch abgesichert werden sollte und
individuelle Bedürfnisse, für die jeder selbst sorgen muss. Der eine bewegt
sich gern. Der andere nimmt lieber eine Tablette. Es wäre seltsam, wenn
Krankenkassen Turnschuhe finanzieren müssten. Warum müssen sie aber die
Ersatzbefriedigung fehlender Aktivität absichern? Die Aktienkurse bei Bayer
sind gefallen, weil ein Lifestyle Medikament zu große Risiken birgt. Die
Pille war für die Gesundheit der Bevölkerung überflüssig. Mancher Mann benötigt
für sein sexuelles Glück Viagra, ein zweifellos hochpotentes Medikament.
Der Viagra gestützte Don Juan ist im Zeitalter von Aids aber eine Gesundheitsgefahr
für seine soziale Umgebung. Es gibt eine breite Palette von Dienstleistungen
und Konsumgütern, die Gesundheitsbedürfnisse abdecken, das individuelle
Wohlbefinden steigern oder das subjektive Glück beflügeln. Ihre Bedeutung
ist jedoch individuell definiert und nicht allgemein gültig.
PSYCHOTHERAPIE:
Also kein Glück auf Krankenschein, gleich ob durch Viagra oder Psychotherapie?
Ellis Huber: Eine moderne Gesellschaft muss entscheiden, ob sexuelles
Glück durch erektile Potenz ein Gut darstellt, dass von der Solidarversicherung
bereit gestellt werden soll oder nur ein individuell bestimmtes Bedürfnis
ist. Es spricht aber nichts dagegen, wenn junge Männer eine individuelle
Zusatzversicherung gegen die drohende Impotenz abschließen oder selbst dafür
bezahlen. "Medizinische Krücken" oder pharmazeutische Ersatzbefriedigung
zur individuellen Bedürfnisbefriedigung müssen in einem modernen Gesundheitssystem
auch individuell finanziert werden, wenn das Gemeinschaftsgefühl einer Gesellschaft
nicht zerstört werden soll.
Die Gliederung einer solidarischen Pflichtversicherung
mit individuellen Wahlmöglichkeiten für eine Zusatzversorgung je nach Bedürfnis
muss politisch umgesetzt werden, damit wieder Klarheit und Transparenz im
Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft einkehrt. Wir können frei
entscheiden, ob Psychotherapie eine individuelle oder eine soziale Leistung
darstellt. Ich persönlich würde psychotherapeutische Zuwendung immer als
Bedarf definieren und eine psychotherapeutische Infrastruktur als Basis
der gesellschaftlichen Entwicklung sicherstellen.
PSYCHOTHERAPIE:
Wie könnte eine alternative Sicherstellung der Versorgung im Bereich der
Psychotherapie aussehen?
Ellis Huber: Eine Zusatzversicherung
für die Leistung der Psychotherapie würde gegenwärtig eine monatliche Prämie
zwischen drei bis fünf Euro zur Folge haben, wenn die Psychotherapeuten
die Bürgerinnen und Bürger davon überzeugen, dass diese Versorgungsleistung
notwendig ist und das Risiko psychischer Erkrankungen eine ernst zu nehmende
Beeinträchtigung des individuellen Lebens ist. Die Freiheit einer offenen
Solidargemeinschaft der Bürgerinnen und Bürger, die den Körper nicht mehr
als Maschine, sondern als beseeltes Wesen sehen, wäre ein begeisterungswürdiges
Ziel für Psychotherapeuten und Klienten. Als Gesundheitspolitiker würde
ich die psychotherapeutische Versorgung zum Bestandteil einer solidarischen
Pflichtversicherung machen. Im Gegenzug wäre sicherzustellen, dass die Psychotherapie
sozial verantwortlich ausgeübt wird.
Ellis Huber:
"Heute schluckt der Terror der Bürokratie gut die
Hälfte der im Gesundheitswesen eingesetzten Mittel"
PSYCHOTHERAPIE: Die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV)
ist ohne grundlegende Reformen nicht mehr finanzierbar. Als wesentliche
Gründe hierfür gelten wachsende Kosten für den medizinischen Fortschritt
und die zunehmende Überalterung der Gesellschaft. Welches Konzept braucht
unser Gesundheitssystem, um die medizinische und psychotherapeutische Versorgung
zukunftssicher zu machen?
Ellis Huber: Unter den europäischen
Ländern hat Griechenland die höchste Lebenserwartung bei Frauen und Männern.
Gleichzeitig zahlen die Griechen am wenigsten Geld für ihre nationale Gesundheitsversorgung.
Steigende Kosten für ein Gesundheitssystem und steigende Gesundheit in einer
Gesellschaft korrelieren nicht miteinander. Nach den empirischen Erfahrungen
weltweit ist die Überalterung der Gesellschaft nur dann ein Kostenproblem,
wenn das Alter als Krankheit definiert und von einem medizinisch-industriellen
Komplex ausgebeutet wird. Die Menschen werden heute sehr viel älter, sie
sind im Leben durchschnittlich aber nicht kränker.
Die Gesundheitswissenschaften
weisen nach, dass die Spannung des sozialen Bindegewebes, die Gegensätze
zwischen reich und arm und Existenzängste, die mitten durch eine Gesellschaft
gehen, über die Gesundheit insgesamt stärker entscheiden als medizinische
Dienstleistungen. Soziale Integration und sozialer Ausgleich sind daher
für ein modernes Gesundheitswesen bedeutsamer als Hightech-Medizin. Die
Zahl der Belastungs-EKGs in einer Region sind kein Leistungsmaßstab. Eher
messen sie die Ressourcenvergeudung. Wirkliche Leistungen in der Heilkunst
werden im bundesdeutschen Gesundheitswesen nicht definiert und daher sind
alle Preissysteme und Vergütungsmuster letztlich leistungsfeindlich und
zerstörerisch für die gesundheitliche Produktivität.
Die Ausbeutung
des Kranken ist immer noch lukrativer als eine gesundheitsförderliche persönliche
Betreuung. Eine neue Leistungsdefinition würde ein klares Ziel setzen: Autonomie!
Autonomie für den einzelnen Menschen trotz eines körperlichen, seelischen
oder sozialen Handicaps ist die Aufgabe moderner Heilkunst. Welche Hilfe
trägt dazu bei, dass ein Einzelner trotz Krankheit und Gebrechen selbständig
sein Leben meistern kann? Dazu bedarf es der kreativen Gestaltung von ressourcensparenden
Wertschöpfungsprozessen.
Gesundheit ist eine Beziehungsleistung.
Das Arzt-Patient- oder das Therapeut-Klient-Verhältnis stellen die kleinste
produzierende Zelle für Krankheitsbewältigung und bessere Gesundheit dar.
Daher müssen die sozialen Ressourcen dort investiert werden und nicht in
die Sekundär- und Tertiärprozesse des Verwaltens, Ordnens und Überwachens.
Heute schluckt der Terror der Bürokratie und das allseitige Misstrauen,
das die Kommunikation unter den Beteiligten bestimmt, gut die Hälfte der
im Gesundheitswesen eingesetzten Mittel. Im kapitalistischen System der
Vereinigten Staaten von Amerika fließen sogar 80 Prozent der bereitgestellten
Ressourcen in unproduktive Sekundär- und Tertiärprozesse.
Ein schlankes
Gesundheitssystem konzentriert den Mitteleinsatz auf die Kernleistung des
Helfens und Heilens und die primäre Wertschöpfung, also auf die Beziehung
zwischen Hilfsbedürftigen und Helfern. In diesem Sinne braucht ein soziales
Gesundheitssystem auch ein konsequentes Versorgungsmanagement, das im lokalen,
regionalen und nationalen Rahmen funktioniert. Ein solches Management ist
eine Führungsaufgabe, die in sozialer Verantwortung wahrgenommen werden
muss. Ein fortlaufendes und auch für die Kunden transparentes Leistungscontrolling
gehört dabei ebenso zum selbstverständlichen Führungsinstrument wie die
offene Kommunikation über das Einkommen einzelner Therapeuten und Experten.
Es geht letztlich um einen fairen Ergebniswettbewerb und nicht um individuelle
Profitabschöpfung.
Jeder Kranke weiß auch, dass Körper, Seele und
soziales Beziehungsnetz miteinander verwoben sind. Schlechte genetische
Voraussetzungen können durch gute soziale Kultur kompensiert werden. Der
Herzinfarkt ist kein Versagen einer mechanischen Pumpe oder das Ergebnis
einer verstopften Röhre. Die Medizin der Industriekultur mit ihren mechanistischen
Sichtweisen wird von der Kommunikationsgesellschaft verändert und an den
neuen Bedarf angepasst. Die neue Zeit lernt, in Wechselwirkungen zu denken
und zu handeln. Danach ist der Herzinfarkt eine Kommunikationsstörung zwischen
Individuum und sozialem Raum oder zwischen Hormonsystem und Herzmuskelzelle.
Er stellt eine Interaktionskatastrophe dar, die nicht mehr monokausal und
mechanistisch, sondern kommunikativ und integriert geheilt wird.
Gegenwärtig entsteht eine neue, ganzheitlich orientierte Medizin, die
Gen, Person und soziale Gemeinschaft miteinander verknüpft sieht. Diese "Relativitätstheorie"
der Medizin wird diese so radikal verändern, wie die Relativitätstheorie
der Physik deren Vorstellungen und Einstellungen umgewälzt hat.
Die
Globalisierung macht real Druck auf das soziale Bindegewebe. Die exklusiven
Kräfte der sich entwickelnden Gesellschaft nehmen zu. Dem muss ein soziales
Gesundheitssystem entgegen wirken. Gleichzeitig darf es aber nicht eine
antiquierte mechanistische Philosophie vertreten oder den medizinischen
Overkill als Leistung verkaufen. Ganzheitliche Heilkunst der Zukunft ordnet
das Gesundheitssystem dem kulturellem Raum der Gesellschaft zu. Das Versorgungsmanagement
für den Einzelnen und die Bevölkerung gelingt dann, wenn die Führungseliten
in der Politik, bei Krankenkassen, Krankenhäusern und in der Ärzteschaft
auf neue Art zusammenwirken und ihre soziale Verantwortlichkeit erkennen.
PSYCHOTHERAPIE: Trotz dieses Reformdrucks haben fast alle führenden
Experten Zweifel an dem von Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) angestrebten
Konsens in der Gesundheitspolitik. Die nötigen Reformen führen zwangsläufig
zu Konflikten mit den Interessengruppen. Gert Wagner vom Deutschen Institut
für Wirtschaftsforschung (DIW) nannte den Wunsch nach einem überparteilichen
Konsens deshalb sogar "naiv". Jede gute Strukturreform basiert
auf einem klaren Konzept, das durch einen Konsens verwässert wird. Wann,
Herr Dr. Huber, wird Ihre Vision Wirklichkeit werden?
Ellis Huber:
Die Zeit ist reif mit dieser Erkenntnis die anstehende Modernisierung anzupacken
und erfolgreich durchzuführen. Für Europa könnte die Gesundheitsreform zur
zweiten Chance werden. Nach der Kommunikationswirtschaft kommt ein Aufschwung
der Gesundheitswirtschaft. Wenn diese sozial integriert statt spaltet, schafft
sie viele Arbeitsplätze und neuen gesellschaftlichen Wohlstand. Die Psychotherapeuten
und die Psychotherapie müssen keine Bange haben, wenn sie diese Vision verfolgen
und aus dem Gefängnis des gegenwärtigen Systems selbstbewusst ausbrechen.
Veröffentlicht am 21.08.2001.
Text aus:
PSYCHOTHERAPIE,
21.08.2001. Luchmann, Dietmar: Im Interview: Ellis Huber über das
deutsche Gesundheitssystem und den Wert der Psychotherapie für das soziale
Bindegewebe.
Vers. 2001.08.21: Ärztepräsident Ellis Huber zur Psychotherapie im Gesundheitssystem