ABARIS Angstambulanz ℠
Presse
Buch-Rezension – Dietmar Luchmann über Klaus Grawe, Psychotherapie im Wandel
Verhaltenstherapie & psychosoziale Praxis [dgvt]
1994, Band 26, Heft 2, Seite 231-241
Heilkunst ohne Gebetbuch — Empirische Psychologische Therapie
Buchbesprechung
Klaus Grawe, Ruth Donati & Friederike Bernauer: Psychotherapie im Wandel.
Von der Konfession zur Profession. Göttingen: Hogrefe-Verlag, 1994. XIV
und 886 S.
Von Dietmar Luchmann
"Psychotherapie im Wandel"
wühlte mit seinen Ergebnissen den Psychotherapiemarkt auf und belegte: Die Kognitive Verhaltenstherapie ist in ihrer Wirksamkeit allen anderen Therapiemethoden und insbesondere der Psychoanalyse ganz klar überlegen. Die Rezension des Psychotherapeuten Dietmar Luchmann erschien mit dem Titel "Heilkunst ohne Gebetbuch – Empirische Psychologische Therapie" in der DGVT-Zeitschrift "Verhaltenstherapie & psychosoziale Praxis", 1994, Band 26, Heft 2, Seite 231-241.
Was muß das für ein Buch über Psychotherapie sein, das bereits lange
vor seiner Veröffentlichung eine "Flut empörter Reaktionen in Form
von Zeitungsartikeln, Leserbriefen und Zuschriften auf Vorveröffentlichungen
von Teilergebnissen" (so die Autoren auf S. 694) auslöst? Eine neue
psychotherapeutische Heilslehre, ein schräger Schrei im Psychomarkt, eine
weitere okkulte Psychotheorie? Nichts von alledem!
Grawe und Mitarbeiter haben in über 13jähriger harter Detail-Arbeit eine
einzigartige Kosten-Nutzen-Analyse der verschiedenen Therapieverfahren vorgelegt.
Ihre Untersuchung bezog alle wesentlichen bekannten Therapiemethoden ein
und erstreckt sich von 10 humanistischen Therapieformen (z.B. Psychodrama,
Gestalttherapie, Gesprächspsychotherapie) über 9 psychodynamische Therapien
(z.B. Langzeitanalyse, psychoanalytische Kurztherapie, Katathymes Bilderleben)
bis zu den interpersonalen Therapien (3 Methoden), Entspannungsverfahren
(4 Methoden), eklektischen und 14 kognitiv-behavioralen Therapien.
Der über 800 Seiten umfassende Band bringt in bester wissenschaftlicher
Akribie eine überwältigende Fülle von Belegen über die Pervertierung der
psychotherapeutischen Gesundheitsversorgung in Deutschland wie sie erschreckender
kaum sein kann: "Der die Gemeinschaft am teuersten zu stehen kommende
Umgang mit psychischen Störungen ist der gegenwärtige. Die Nicht-Nutzung
der besten bestehenden Behandlungsmöglichkeiten führt zu den größten Kosten,
nicht deren Nutzung" (S. 681). Folgerichtig geben sich die Autoren "nicht
der Illusion hin, dass die meisten Psychotherapeuten begierig darauf sind,
etwas über die tatsächliche Wirkung der verschiedenen Therapieverfahren
zu erfahren" (S. 694), nicht jedoch ohne festzustellen: "Ein Gesundheitssystem,
in dem das Wohl der Patienten nur noch als Vorwand für das Verfolgen finanzieller
Interessen dient, wird seine grundlegende Reformbedürftigkeit allerdings
nicht mehr lange bemänteln können" (S. 16).
Ohne Zweifel ist dies die umfangreichste, methodisch gewissenhafteste und
wissenschaftlich akribischste Psychotherapievergleichsstudie, die dem deutschsprachigen
Leser die Ergebnisse der gesamten internationalen Wirkungsforschung im Bereich
Psychotherapie verfügbar macht. Daß dieses Buch zugleich ein politisches
ist, folgt weniger aus dem Umstand, daß der Erstautor auch einer der von
der Bundesregierung beauftragten Gutachter zur Frage eines Psychotherapeutengesetzes
ist, sondern aus den meßbaren Daten und verifizierbaren Fakten, die dieses
Handbuch psychotherapeutischer Effizienz mit gnadenloser Deutlichkeit offenlegt:
Insgesamt 16 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben im Verlaufe
von mehr als einem Dutzend Jahren "über dreieinhalbtausend Therapiestudien
sichten müssen, in denen die Wirkung einer psychologischen Behandlungsmethode
in einem kontrollierten Versuchsplan geprüft wurde" (S. 30). Von diesen
auf über 300 wissenschaftliche Zeitschriften verteilten Studien wurden von
Grawe und Mitarbeitern "nach methodischer Güte und klinischer Relevanz
dann 897 Studien, die sich direkt auf den Kernbereich der Psychotherapie
beziehen, mit großer Sorgfalt und Detailliertheit ausgewertet und die Ergebnisse
nach einzelnen Therapiemethoden zusammengestellt" (S. 31). Ein besonderes
Merkmal dieser "grossen gemeinsamen Forschungsanstrengung" an
der Universität Bern besteht darin, daß die Autoren "den Anspruch hatten,
alle je durchgeführten kontrollierten Psychotherapiestudien vollständig
zu berücksichtigen" (S. 31).
Es ist unmöglich, die Fülle an Daten, Material und Erkenntnissen auch nur
anzudeuten, die Grawe u.a. zusammengetragen und ausgewertet haben. Die nachfolgenden
Betrachtungen aus der Studie und den direkten Wirkungsvergleichen verschiedener
Therapieformen können daher nur eine wärmstens ausgesprochene Einladung
zum Nach- und Weiterlesen und keinesfalls eine Zusammenfassung sein. Angenehm
ist die übersichtliche Strukturierung des zusammengetragenen Materials,
der gezogenen Problembereiche und die klare Diskussion der Ergebnisse, die
das Buch trotz seiner zahlreichen tabellarischen Zusammenstellungen und
Materialfülle sehr lesbar halten. In bezug auf die zentrale Frage, welche
Psychotherapie wie wirksam ist, nehmen Grawe u.a. kein Blatt vor den Mund: "Noch
nie hat sich in irgendeiner Übersichtsarbeit über die vergleichende Wirkung
von Therapien irgendeine andere Therapieform den kognitiv-behavioralen Therapien
als überlegen erwiesen. Immer geht es nur um die Frage, ob man die Unterschiede
zugunsten der Verhaltenstherapie als signifikant ansehen kann oder muss.
Der umgekehrte Fall steht gar nicht zur Debatte. Die tatsächliche Ergebnislage
könnte daher nicht eindeutiger sein, als sie ist: Kognitiv-behaviorale Therapie
ist im Durchschnitt hochsignifikant wirksamer als psychoanalytische Therapie
und Gesprächspsychotherapie" (S. 670).
Grawe u.a. gehen auch ausführlich auf die aus jahrzehntelanger psychoanalytischer
Fehlprägung resultierende extreme Überschätzung des Zeitbedarfes für Psychotherapie
ein, die sich in vielen Köpfen noch hartnäckig als ein Mythos hält und sowohl
die objektive Realität moderner kognitiv-behavioraler Therapie als auch
die Ergebnisse der gesamten wissenschaftlichen Wirksamkeitsprüfung völlig
ignoriert. "Der Zeitraum, in dem wirksame Therapien ihre Effekte erzielen,
bemisst sich nach Monaten und nicht nach Jahren. Gerade bei den Therapienformen,
die sich als besonders wirksam erwiesen haben, treten die positiven Wirkungen
der Therapie in erstaunlich kurzen Zeiträumen ein bzw. werden mit einer
erstaunlich geringen Sitzungszahl erreicht. Dies gilt sehr ausgeprägt für
viele der kognitiv-behavioralen Verfahren. ... Die von vielen psychoanalytischen
Therapeuten auch heute noch vertretene Auffassung, schwer gestörte Patienten
brauchten langjährige Therapien, ist eindeutig widerlegt" (S. 696).
Die erwähnte "Flut empörter Reaktionen" psychoanalytisch orientierter
Ärzte und Psychologen ist zu verstehen, aber nicht zu unterschätzen, wenn
man die reale Bedrohung für diese Therapeuten begreift, die ihnen aus dem
Abhandenkommen dieses Mythos bei Gesundheitspolitikern und Kostenträgern
entsteht. Die Folgen für die psychotherapeutische Versorgung in Deutschland,
die sich aus den Widerständen der Vertreter der psychoanalytischen und psychodynamischen
Therapieschulen ergeben, sind indes verheerend. Kein Gesundheitspolitiker
käme wohl auf den Gedanken, eine Budgetierung für Psychotherapie einzuführen,
wenn er sich bewußt wäre, daß eine hochwirksame kognitiv-behaviorale Behandlung
über kaum mehr als einem Dutzend Sitzungen ein Vielfaches an medizinischen
Folgekosten erspart - eine Rendite, die sich auch an der Börse kaum realisieren
ließe. Hier liegt der unentdeckte Termin- und Futures-Markt der Gesundheitsvorsorge,
der wohl erst dann richtig erschlossen werden wird, wenn die Lobby der Patienten
größer geworden ist als die der Behandler bei Ministerien, Kostenträgern
und Abrechnungsstellen.
Individuelle Fehlinvestitionen von Therapeuten sind gewiß bedauerlich, es
ist jedoch nicht einzusehen, daß eine Gesellschaft fortlaufend Milliarden
in den Sand setzt, weil es vielen Psychoanalytikern nicht gelingt zu erkennen,
daß sie mit ihrer Ausbildung und Lehranalyse in eine Option investiert haben,
die zwischenzeitlich abgelaufen ist. "Der einzige uns bekannte empirisch
nachgewiesene Effekt langjähriger Lehranalysen ist, dass Therapeuten, die
eine besonders lange Lehranalyse absolviert haben, später auch besonders
lange Therapien durchführen", bemerken Grawe u.a. (S. 699) und konstatieren,
daß "man das nicht gerade als Kompetenzzuwachs betrachten [kann]. Es
ist zudem eine für das Versorgungssystem sehr kostspielige Auswirkung"
psychoanalytischer Glaubenslehre.
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) publizierte 1993 eine zusammenfassende
Untersuchung der Wirksamkeit psychotherapeutischer Behandlungsverfahren
und gelangte zu demselben unmißverständlichen Ergebnis wie Grawe u.a.: "Cognitive-behavior
therapy has been shown to be a powerful specific treatment in the neuroses,
with some early evidence of its benefit in some personality disorders. Dynamic
psychotherapy, although popular with patients and therapists..., has not
been demonstrated to be superior to placebo in the neuroses or personality
disorders" (Andrews/WHO, 1993, S. 244). Es ist daher nur folgerichtig,
daß der hochgeschätzte Prof. Hans J. Eysenck vom Londoner Institute of Psychiatry
im Lichte dieser Tatsachen schlicht folgert, "It is time psychoanalysis
and psychotherapy joined phlogiston on the list of scientific theories that
misled whole generations" (Eysenck, 1994, S. 491).
Betrachtet man diese und die Vielzahl weiterer, ebenso eindeutiger und klarer
Ergebnisse der Wirksamkeitsforschung in der internationalen Literatur, so
kann man Grawe u.a. eine außerordentlich nüchterne Bestandsaufnahme und
durchaus behutsame und sehr faire Diskussion der Ergebnisse bestätigen.
Geht man von Grawe’s Feststellung aus, "für eine ganze Reihe
von Therapiemethoden, insbesondere aus dem kognitiv-behavioralen Spektrum,
aber auch für Hypnosetherapie oder Entspannungsmethoden ist stichhaltig
nachgewiesen worden, dass sie psychosomatische Störungen wirksam verbessern"
(S. 692), wie lange noch, so fragt man sich dann, will die Gesellschaft
widerspruchslos die folgende Situation hinnehmen, die Grawe u.a. nur selten
als "irrationale[n] Zustand" auch einer Bewertung unterziehen: "Ausgerechnet
die Therapieform aber, die sich als auffällig ungeeignet für die Behandlung
psychosomatischer Störungen erwiesen hat, die psychoanalytische Therapie,
spielt in der psychosomatischen Versorgung und Ausbildung die dominierende
Rolle. Jeder Lehrstuhl für Psychosomatik/ Psychotherapie ist in der BRD
mit einem Psychoanalytiker besetzt. ... Für die Patienten, die innerhalb
dieser Universitätsabteilungen behandelt werden, hat dieser Zustand handfeste
negative Folgen. Sie rechnen aus gutem Grund damit, dort eine besonders
qualifizierte Therapie zu erhalten, werden aber tatsächlich geradezu regelhaft
schlechter behandelt, als es mit gleichem oder geringerem Aufwand möglich
wäre" (S. 692f.).
Um die aberwitzigen praktischen Implikationen der immer noch bestehenden
Situation mit (traditionell) stark dominierenden psychoanalytischen und
tiefenpsychologischen Behandlungsangeboten zu verdeutlichen, weisen Grawe
u. a. beispielsweise auf ein Rechenexempel von Kächele & Kordy (1992,
S. 524) hin: "Eine fünfjährige Psychoanalyse mit vier Sitzungen pro
Woche erfordert den gleichen therapeutischen Aufwand wie die Behandlung
von 40 Patienten mit einer halbjährigen Behandlung von 26 Therapiesitzungen.
Die bisherigen Forschungsergebnisse haben gezeigt, dass vor allem besonders
gering gestörte Patienten von Langzeitpsychoanalysen profitieren können.
Es wäre ziemlich absurd, wollte man daraus die Konsequenz ziehen, für einen
eher gering gestörten Menschen einen Aufwand zu betreiben, mit dem man auch
40 schwerer gestörte Patienten behandeln könnte" (Grawe u.a., S. 702).
Die Autoren scheuen sich nicht, die aus diesem Tatbestand unmittelbar resultierenden,
dringenden Konsequenzen zu benennen: "Therapeuten, die für sich selbst
feststellen müssen, dass die Mehrzahl ihrer Therapien länger als 40 Therapiesitzungen
dauert, müssen über die Bücher. Sie sind Opfer einer falschen Ausbildung
und/oder einer selbst produzierten Realitätsverzerrung" (S. 698). Diese
von Grawe u.a. vorgenommene Definition heute regelhaft erreichbaren therapeutischen
Effizienz-Standards ist natürlich eine Herausforderung für ein noch immer
maßgeblich von der psychoanalytischen Theorie und deren Lobby geprägtes
System der Richtlinien-Psychotherapie in Deutschland, welches mit seiner
Honorierung eher langdauernde Psychotherapien fördert.
Der von Grawe u.a. mit einem Rahmen von 25 bis 40 Sitzungen umrissene Standard
moderner therapeutischer Effizienz darf jedoch als eher moderat gelten.
Perris & Herlofson (1993, S. 185) definieren in der WHO-Studie einen
deutlich anspruchsvolleren regelhaft erreichbaren Stand der Kunst in der
kognitiven Therapie: "The length of treatment is relatively short for
the treatment of the average patient (12 - 15 sessions)". In praxi
bedeutet dies nichts anderes, als daß eine effiziente kognitive Therapie
mit acht Sitzungen bereits erfolgreich zum Therapieabschluß gelangt sein
kann, während der psychoanalytische Behandler erst die letzte probatorische
Sitzung vor seinem Langzeitantrag absolviert hat! Ein wahrlich groteskes
Geschehen, wenn man sich vor Augen führt, daß ein verhaltenstherapeutischer
Behandler in solchen Fällen in unserem heutigen System leicht in Verdacht
geraten kann, nur Therapieabbrecher zu haben.
Es ist angesichts der absurden und unverantwortlichen Situation im deutschen
Gesundheitswesen, in welchem psychoanalytisch orientierte Ärzte sowohl die
Beantragung von Psychoanalyse als auch von Verhaltenstherapie begutachten
und damit die Durchführung einer Behandlung kontrollieren, für die ihnen
oft jede Kompetenz fehlt, ein systemimmanentes Problem und nicht verwunderlich,
daß eine Vielzahl von solchermaßen unsinnigen Erstanträgen über bis zu 160
Sitzungen Psychoanalyse ein realitätsfremdes Psychotherapie-Verständnis
bei gesetzlichen und privaten Krankenversicherungen prägen. Verwunderlich
ist allerdings, daß Kostenträger und Politiker, die permanent vom Sparen
reden, sich derart unverschämt und "ohne Unrechtsbewußtsein" (Grawe
u.a., S. 693) abschöpfen lassen und auf konkrete Vorschläge, so der Brief
einer Krankenkasse vom Januar 1994 an den Rezensenten, lediglich eine gebündelte
Ignoranz in (beispielhaft) folgender Form zu demonstrieren wissen: "Ob
und inwieweit [mit einer flexiblen Kostenerstattung für moderne kognitiv-behaviorale
Verfahren] die Kosten der gesetzlichen Krankenversicherung gesenkt werden
können, ist nach unseren Erfahrungen aus anderen Bereichen mehr als fraglich".
Fazit: Im Dunkeln ist alles schwarz, egal ob sich vor einem die Tür oder
die Wand befindet.
Obwohl Grawe u.a. die fatalen finanziellen Folgewirkungen des derzeitigen
Umganges mit psychischen Störungen eher mit dem Fokus des Wissenschaftlers
und Therapieforschers diskutieren und weniger auf die spezifischen Rahmenbedingungen
von Therapeuten abheben, die ihrerseits von Institutionen und Kassenärztlichen
Vereinigungen abhängig sind, kann der Leser dank der offenen und kritischen
Diskussion, die das Buch auszeichnet, den Brückenschlag zur Praxis in der
Regel gut vollziehen.
Allerdings mögen sich für Außenstehende einige ursächliche Handlungsmotive
der psychotherapeutischen Praktiker nicht immer einfach erschließen: In
der Tat ist es kaum plausibel zu machen, warum ein Therapeut, der eine Langzeit-Psychotherapie
beantragt und durchführt, mit einem im Ergebnis um etwa 10 % höheren Stundenhonorar
belohnt wird. Eine effizientere Bestrafung eines effizienten Psychotherapeuten,
der alle oder die überwiegende Mehrzahl seiner Patienten innerhalb von 25
bis 30 Therapiestunden (dem Kurzzeit-Psychotherapie-Rahmen) erfolgreich
verabschieden kann, läßt sich schwerlich vorstellen. Trotz ihrer Aufnahme
in die öffentliche Gesundheitsversorgung wird die Verhaltenstherapie mit
ihren effizientesten Methoden damit in ein Prokrustesbett der Bürokratisierung
gezwungen, das mit der Vorgabe von Sitzungsfrequenzen und der Beschränkung
therapeutischer Handlungsmöglichkeiten nicht nur "eine Kanonisierung
und potentielle Rigidität befürchten" läßt (vgl. Kuhr, 1994, S. 7),
sondern tatsächlich auch bewirkt. Die Entfaltung psychotherapeutischer Effizienz
und die Realisierung psychotherapeutischen Erfolges wird trotz der Verfügbarkeit
der besten Methoden durch das derzeitige System der Gesundheitsversorgung
schwerwiegend behindert.
Am Beispiel der Therapie der Agoraphobie und Panikstörung mag diese Absurdität
der gegenwärtigen Gesundheitsversorgung, auf die Grawe u.a. beharrlich hinweisen,
illustriert werden: Nach dem Stand der Therapieforschung ist bei dieser
Erkrankung die In-vivo-Exposition (massierte Reizkonfrontation) die Methode
der Wahl, die "dem einzelnen Patienten nachweislich mit größter Wahrscheinlichkeit
helfen würde" (Schulte, 1992, S. 337). In bezug auf die wirtschaftlichen
Vorteile einer im konkreten Lebensraum der Patienten ausgeführten massierten
Reizkonfrontation gegenüber einer teureren Klinikbehandlung führen Grawe
u.a. (S. 343) aus: "Während Agoraphobien [...] noch vor dreißig Jahren
zu den sehr schwer behandelbaren Störungen zählten und Patienten mit diesen
Störungen in grosser Zahl die psychiatrischen Kliniken bevölkerten, hat
sich das Bild heute drastisch gewandelt. Patienten mit solchen Störungen
haben heute eine eher günstige Prognose, und dies ist fast gänzlich den
Reizkonfrontationstherapien zu verdanken." Unter Hinweis auf diese
Therapieerfolge, die durch eine in ein umfassendes ambulantes Behandlungskonzept
eingebettete Reizkonfrontation erzielbar sind, stellen Grawe u.a. (S. 344)
zum Erfordernis der Reizkonfrontation bei Agoraphobien daher fest und betonen: "Therapeuten,
die dies - aus welchen Gründen auch immer - nicht tun, legen ihren Patienten
völlig unnötig ein verlängertes oder nie endendes Leiden auf und verstossen,
das kann man heute so sagen, gegen die Regeln der Kunst."
Die Absurdität der gegenwärtigen Psychotherapie beginnt hingegen weniger
bei jenen Ärzten, die ihre Patienten heute wie vor dreißig Jahren aus Hilflosigkeit,
Unkenntnis oder aus Therapieschulenproporz zunächst vergeblich mit Psychopharmaka
versorgen und dann in die Kliniken schicken. Nein, die Absurdität beginnt
bereits da, wo Vertreter der Krankenkassen und Kostenträger verhaltenstherapeutische
Behandler abmahnen, weil diese auf die wirtschaftlichen Vorteile einer effizienten
Reizkonfrontation hinweisen oder ihrer Aufklärungspflicht gegenüber den
Patienten über die nach "den Regeln der Kunst" strikt indizierte
In-vivo-Exposition nachkommen. Wer auf der Grundlage der "gültigen
Richtlinien" der Psychotherapie-Vereinbarungen einmal versuchte, einen
Kostenträger davon zu überzeugen, die therapeutischen und finanziellen Besonderheiten
der Reizkonfrontation zu berücksichtigen, weiß wovon die Rede ist. 30 flexibel
verwendbare Therapiestunden und vielleicht weitere DM 1.000,- für Expositions-Sachkosten
(Fahrzeuge, Tickets, Spesen etc.) wären im Einzelfall beispielsweise ausreichend,
um eine adäquate Reizkonfrontation zu ermöglichen, die therapeutisch nachweislich
mit größter Wahrscheinlichkeit helfen würde. Dies lassen die gültigen Psychotherapie-Richtlinien
jedoch nicht zu. Statt dessen würden sicher 45 Therapiestunden (Langzeit-Therapie)
genehmigt. Und da durch die Honorardeckelung des jüngsten Gesundheitsreformgesetzes
das Sitzungshonorar ohnehin gemindert ist, der Patient gegenüber seiner
Krankenkasse einen Sachleistungsanspruch hat und folglich für die Expositionskosten
nichts zuzahlen darf, der Therapeut sich wiederum durch die Übernahme der
Expositionskosten nicht ruinieren wird, findet die gutachterlich abgesegnete
Verhaltenstherapie letztlich doch nur in der Praxis des Therapeuten statt,
was dem Patienten wenig hilft, der Krankenkasse aber u.U. bereits bei der
Therapie, auf jeden Fall aber bei den Folgekosten wesentlich teurer kommt.
Wenn ein Patient in diesem Fall eine rasche und wirksame Therapie wünscht,
wird er selten eine andere Wahl haben als die Therapie aus eigener Tasche
zu bezahlen. Dies wird nur ein Teil der Patienten können, ein anderer Teil
wird sich eher für die erstattungsfähigen Psychopharmaka oder eine weniger
ergiebige Klinikbehandlung entscheiden. Unter diesem Blickwinkel mutet die
Analyse und Kritik von Grawe u.a. daher an manchen Stellen schon fast moderat
an.
Ein viel zu geringes öffentliches Bewußtsein für den wirtschaftlichen Wert
psychologischer Behandlungsmöglichkeiten besteht ebenso im Bereich der psychiatrischen
Erkrankungen. Grawe u.a. illustrieren dies am Beispiel des Alkoholismus
und der Schizophrenie und rechnen den möglichen gesellschaftlichen Nutzen
der Psychotherapie vor: "Wenn man alle Kosten in Rechnung stellte,
dann überwogen die Einsparungen bei den Kosten für stationäre Aufenthalte,
Krisenintervention, Gerichtskosten und Gemeinde-Nachbetreuungskosten die
mit der zusätzlichen familientherapeutischen Behandlung verbundenen Kosten,
auf einen Zeitraum von neun Monaten berechnet, um DM 4.200,- pro Patient.
Der grosse Gewinn an Lebensqualität für den Patienten und seine Angehörigen
war also nicht etwa mit zusätzlichen Kosten verbunden, sondern erbrachte
sogar beträchtliche reale Einsparungen" (S. 680f.). Die therapeutischen
Verfahren hierfür liegen vor, Therapiehandbücher wie Perris (1989) und Falldarstellungen
Luchmann (1994) illustrieren die Möglichkeiten der modernen psychologischen
Therapie. Scotti u.a. (1993, S. 547) konstatieren, daß "the chronic
psychiatric disorders are not 'too severe for behavior therapy', nor should
any 'biological basis' for these disorders rule out the use of behavior
therapy as a primary or secondary treatment option".
Im Kampf um den Erhalt von Marktanteilen im Bereich Psychotherapie artikulieren
selbst Ärztevertreter die sträfliche Vernachlässigung dieses Bereiches,
so beispielsweise Zeller (1994, S. 44): "Einerseits bewertet die gültige
Gebührenordnung eine psychiatrisch-psychotherapeutische Tätigkeit völlig
unzureichend... Andererseits grenzen einige analytisch tätige Gutachter
solche schwergestörten Patienten mit Neurosen, Borderline-Störungen und
Psychosen aus einer regulären psychotherapeutischen Behandlung aus. Hier
liegt der eigentliche Skandal." Grawe u.a. lassen keinen Zweifel, daß
es noch immenser öffentlicher Überzeugungsarbeit bedarf, um die kurzsichtige "Befürchtung,
eine viel verbreitetere Nutzung psychologischer Behandlungsmöglichkeiten
würde die Gesundheitskosten nur noch weiter nach oben treiben" zu verändern. "Natürlich
kostet eine wirksame psychotherapeutische Behandlung zunächst einmal etwas,
aber diese Kosten werden schon nach kurzer Zeit, und erst recht längerfristig
weit mehr als wettgemacht durch Einsparungen an anderen Orten: Durch verringerten
Medikamentenkonsum, verringerte Kosten für stationäre Aufenthalte und ambulante
Arztbesuche, weniger Frühberentungen, weniger Ausfälle bei der Arbeit, bessere
Arbeitsleistungen, weniger Unfälle, weniger Suizide" (S. 681).
Diese gesunde Logik besitzen manche Patienten noch in größerem Maße als
ihre Kranken- oder Rentenversicherer. Da bat den Rezensenten doch eine Patientin: "Würden
Sie mir bitte etwas dazuschreiben, daß Sie es für meine Krankheit befürworten,
daß ich Ihre Therapie mache, und daß eine psychosomatische Kur für mich
schlecht wäre". Wen das Leben wohl bestrafte? Beide. Natürlich die
Patientin, die eine Genehmigung für den Klinikaufenthalt bzw. eine Ablehnung
ambulanter Psychotherapie erhält, und den Rentenversicherer, der die höheren
Kosten einer weniger geeigneten Behandlung und deren Folgen zu tragen hat.
Fast ist es ein Vorteil des Buches von Grawe u.a., die absurde Realität
des gegenwärtigen Entwicklungstandes der Psychotherapie und der Praktiken
im deutschsprachigen Raum strikt im Fokus nüchterner wissenschaftlicher
Verallgemeinerung zu widerzuspiegeln. Die Realität wäre sonst kaum erträglich.
So ergibt sich, wie Grawe u.a. detailliert aufzeigen, in allen psychotherapeutischen
Indikationsbereichen die paradoxe Situation, daß die begrenzten finanziellen
Mittel die die Krankenkassen, privaten Krankenversicherungen und Rentenversicherungen
in Deutschland für Psychotherapie bereitstellen, bei dem weit überwiegenden
Behandlungsanteil psychoanalytischer und tiefenpsychologischer Verfahren
keineswegs für eine effiziente und professionelle Psychotherapie mit nachweislicher
Senkung der bekannten psychosomatischen Folgekosten eingesetzt werden, sondern
daß vielmehr die medizinischen und gesamtgesellschaftlichen Folgekosten
durch die "weder ethisch noch volkswirtschaftlich vertretbar[e]"
(S. 1) Behandlung mit weniger wirksamen oder ineffizienten Verfahren erhöht
werden.
In dem von Grawe u.a. ausführlich diskutierten Fall der analytischen Schule
dienen die Behandlungskosten somit eher der Förderung konfessioneller Aktivität
denn nachweislich wirksamer Heilkunde. Sollte man tatsächlich erwarten,
Psychotherapeuten könnten die Fortschritte der Forschung als Ermutigung
und Chance empfinden, die dazu führen, "dass sie sich mit diesen neuen
Methoden vertraut machen und sie nutzen? Die ganze Perversion der schulorientierten
Abgrenzungen im Bereich Psychotherapie kommt" nach Grawe u.a. (S.746) "darin
zum Ausdruck, dass das ganze Gegenteil geschieht. Diese Neuentwicklungen
werden von der Mehrzahl der Psychotherapeuten nicht als willkommene Bereicherung,
sondern als Bedrohung empfunden, auf die mit einer Kaskade von Abwehrmechanismen
reagiert wird. Ignorierung, solange es geht; dann Abwertungsstrategien (klinisch
irrelevant, Dressurmethode, oberflächlich, Symptomkur, unmenschlich, technokratisch
usw.), die erkennen lassen, dass auf ein Stereotyp reagiert wird, und nicht
auf etwas, mit dem man sich bekannt gemacht hat; und schließlich Ausgrenzung
(etwas für Verhaltenstherapeuten, nichts für mich). Die Tatsache und das
Ausmass dieser gut dokumentierten Abwehrformen geben einen unerfreulichen
Einblick in das professionelle Selbstverständnis der betreffenden Therapeuten.
Es geht nicht in erster Linie darum, etwas für die zu Behandelnden zu erreichen,
sondern darum, etwas für die Behandler zu bewahren: ihr Therapieverständnis,
ihren Selbstwert, Status, finanzielle Vorteile usw. Von der Ergebnisqualität
der Behandlungen ist in der Auseinandersetzung mit diesen neuen Entwicklungen
kaum einmal die Rede und das ist bezeichnend" (S. 746).
Zu den denkwürdigsten Dokumenten "einer selbst produzierten Realitätsverzerrung"
(Grawe, S. 698), die der Rezensent in diesem Kontext von einer Gemeinschaftspraxis
dreier Nervenärzte erhalten hat, zählt ein Brief vom Februar 1994: "Sehr
geehrter Herr Kollege Luchmann, unser Credo lautet: Es gibt die verschiedensten
Psychotherapien, wobei alle Psychotherapien von sich in Anspruch nehmen,
daß sie wirksam sind und auch sind. ... Prioritäten bezüglich der verschiedenen
psychotherapeutischen Richtungen haben wir nicht." Gewiß, im Verständnis
jener Psychoanalytiker braucht die Therapie ja nicht wirksam zu sein, sondern
nur weiterhin den Anspruch auf Wirksamkeit zu erheben! Eine aufschlußreiche
und lehrreiche Ergänzung des Buches für alle, die nicht zu den "Insidern"
zählen, wäre ein Anhang mit den "gut dokumentierten Abwehrformen"
gewesen. Freilich taten die Autoren auch nicht unrecht, die Bäume und das
gute Papier zu schonen: "Psychotherapy, and the dynamic theories on
which it is based, is an example of a 'degenerating program shift'",
schreibt Eysenck (1993, S. 17f.), "behavior therapy, and the conditiong
theory on which it is based, is an example of a 'developing program shift'".
Wer sich das Buch von Grawe u.a. zulegt, investiert weniger als den Betrag
für eine psychotherapeutische Sitzung, hat jedoch die Chance, einen unschätzbaren
Realitätsgewinn zu erreichen. Das gilt gleichermaßen für Psychotherapeuten
wie für Gesundheitspolitiker, Rentenversicherungs- und Krankenkassenvertreter.
Für die letzteren erfordert es eine einfache Wirtschaftlichkeitsrechnung,
um zu einem realistischen Eindruck von psychotherapeutischer Effizienz zu
gelangen; für die ersteren hingegen oft die Preisgabe ihrer Identität -
und welche Widerstände und Abgründe sich da eröffnen, weiß der geneigte
Leser sicher aus der Arbeit bei seinen eigenen Patienten. Grawe u.a. weisen
ferner auf den aus genau diesen konfessionellen Gründen regelmäßig unterschlagenen
Umstand hin, daß die "Psychologen [...] im Durchschnitt wesentlich
besser als Ärzte auf den Psychotherapeutenberuf vorbereitet [sind] ; sie
sind es, die im wesentlichen die Anwendung der Psychotherapie zu heilenden
Zwecken wissenschaftlich untersucht haben und sie mehrheitlich praktizieren;
sie führen im Durchschnitt wirksamere Therapien durch als Ärzte" (S.
20). Das kann nicht überraschen, weil die effizientesten Psychotherapie-Verfahren,
z.B. kognitiv-behaviorale Methoden, nahezu ausnahmslos ihren Ursprung in
der Forschung und Entwicklung der experimentellen und klinischen Psychologie
haben und durch deren Voranschreiten weiterentwickelt werden!
Gleichwohl, so fahren Grawe u.a. fort, "gehört [es] zu den absurdesten
Anachronismen unseres Gesundheitssystems, dass dennoch der Ärztestand den
Psychologen gegenüber den Anspruch stellt, für die Psychotherapie führend
verantwortlich zu sein" (S. 20). Daran ändert bis zur Schaffung eines
psychotherapeutisch tätige Psychologen und Ärzte kollegial gleichstellenden
Gesetzesrahmen auch die erfreuliche und ermutigende Tatsache nichts, daß
- anders als bei den Ärztefunktionären - die Zahl der praktizierenden Ärzte
wächst, die auf dem Boden dieser Erkenntnis und zum Wohle ihrer Patienten
eine fruchtbare und kollegiale Zusammenarbeit mit den Psychologen pflegen.
Grawe u.a. diskutieren anhand verschiedener konkreter Studien die Kostenersparnis,
die durch ausreichend verfügbare ambulante psychologische Behandlungsangebote
realisiert werden können. Die weltweit beispiellos hohe Zahl von stationären
Psychotherapieplätzen in Deutschland kostet extreme Summen und ist keinesfalls
wirtschaftlich. Wenn Patienten sich nach mehrwöchigen und mehrmonatigen
Aufenthalten in psychosomatischen/psychotherapeutischen Kliniken dem ambulanten
Behandler in ihrem realen Lebensumfeld sehr rasch wieder mit all ihren Symptomen
präsentieren, so sind die Klinikkosten eher einem lebensfernen "Glashauseffekt"
denn einer wirksamen Behandlung zugeflossen.
Die Forschung weist nach, daß durch eine qualifizierte ambulante psychologische
Therapie im Anschluß an die psychiatrisch-neurologische und internistisch-chirurgische
Akutbehandlung und -rehabilitation ein meßbarer Gewinn für das Therapie-
und Rehabilitationsziel sowie eine enorme Kostensenkung zu erreichen ist.
Mehr noch: Für jede einzelne im Vorfeld der erforderlichen Akutbehandlung
in Verhaltenstherapie investierte DM lassen sich nach empirischen Berechnungen
mindestens DM 2,50 bis DM 3,50 an medizinischen Folgekosten sparen. Dennoch
geht der ärztliche Kampf um den Erhalt eines anachronistischen ärztlichen
Primats auf Psychotherapie weiter. Anstatt eine ambulante psychologische
Therapie zu fördern, die frühzeitig (präventiv und kurativ) aktiv wird,
realitätsnah, effizient und empirisch fundiert und deshalb preiswert ist,
kommt der sich selbst ad absurdum führende Ruf nach noch mehr stationären
Psychotherapiebetten aus der Ärzteschaft: "Psychosomatische Abteilungen
oder Funktionseinheiten in den Allgemeinkrankenhäusern ... wären die volkswirtschaftlich
günstigste Ad-hoc-Maßnahme. Mit dem Wohl der Kranken wagt man als Arzt heute
kaum noch zu argumentieren" (Hoffmann, 1994, S. A117). Stimmt, kann
man zu Letztem nur sagen. Wie konstatierten Grawe u.a. doch gleich: "Es
geht nicht in erster Linie darum, etwas für die zu Behandelnden zu erreichen,
sondern darum, etwas für die Behandler zu bewahren" (S. 746).
Glücklicherweise ist ein Prozeß der öffentlichen Bewußtseinbildung in Gang
gekommen, der die moderne psychologische Therapie als eine streng wissenschaftlich
begründete, problemorientierte und hocheffiziente Dienstleistung im Bereich
der psychischen und körperlichen Gesundheit zu akzeptieren beginnt, denn "die
vorhandenen Informationen werden sich nicht dauerhaft unterdrücken lassen"
(S. 748). Das Buch von Grawe u.a. wird diesen Prozeß beschleunigen helfen
und den Akkomodationsdruck auf die Psychotherapieschulen erhöhen. "Akkomodationsdruck
besteht für jede Therapieschule, ohne Ausnahme, auch für diejenigen, die
sich aufgrund der referierten Ergebnisse vielleicht für kurze Zeit als Sieger
fühlen mögen. Die Therapieschul-Verhaltenstherapeuten mögen sich im Glanz
der Wirksamkeitsnachweise sonnen; die wissenschaftlichen Verhaltenstherapeuten
werden aber gut daran tun, sich ihrerseits den von ihnen bisher ausgeblendeten
Fakten zuzuwenden und ihre theoretischen Vorstellungen daran zu akkomodieren"
(S. 748).
Grawe u.a. leiten aus dem nach ihrer Überzeugung stattfindenden Sich-Überleben
der Therapieschulen eine Zukunft der Psychotherapie ab, die nicht darin
bestehen wird, "dass sich eine der jetzt bestehenden Therapieformen
den anderen gegenüber durchsetzt, sondern dass etwas entsteht, das es heute
noch nicht gibt, nämlich eine 'Allgemeine Psychotherapie'" (S. 748).
Diese Zukunft einer empirisch begründeten Allgemeinen Psychotherapie umreißen
Grawe u.a., kondensiert aus den Ergebnissen der Studie, in einem sehr lesenswerten
und kompromißlosen Abschlußkapitel von (leider nur) neununddreißig Seiten: "Was
wir vorschlagen, ist weder das, was vielfach unter 'integrativer Therapie'
verstanden wird, noch ist es ein eklektischer Ansatz. ... Die Grundlage
einer Allgemeinen Psychotherapie wäre keinesfalls ein Flickenteppich aus
theoretischen Versatzstücken der verschiedenen bestehenden Therapieformen.
... Die Konstrukte dieser Therapieformen sind im Ansatz ungeeignet, das
psychotherapeutische Geschehen vollständig zu erklären" (S. 786). Auf
der Suche nach "einem ganz neuen theoretischen Ansatz von grösserer
Erklärungsbreite" sind Grawe u.a. der Überzeugung, "dass die konzeptuelle
Entwicklung der empirisch orientierten Psychologie heute bereits die tragfähige
Grundlage einer solchen Allgemeinen Psychotherapie sein kann" (S. 786).
Mit der Skizzierung einer auf dem Konstrukt des Schemas fußenden theoretischen
Konzeption unternehmen die Autoren den Versuch, eine solche Grundlage auszuformulieren.
Diese ist als Anregung gewiß gelungen, der Begriff selbst ist freilich nicht
neu und hat seinen Ursprung bereits in den Anfängen der experimentellen
und kognitiven Psychologie (z.B. Bartlett, 1932). Der Leser mag über die
enge Verknüpfung moderner psychotherapeutischer Therapie mit experimenteller
Psychologie überrascht sein. Eine wirkliche Überraschung ist eher, daß es
den Therapeuten gewisser Therapieschulen über Jahrzehnte hinweg möglich
war (und noch immer ist), Patienten zu erzählen, daß beispielsweise ihre
Höhen-Angst vor Kirch- und Aussichtstürmen mit dem vorgeblichen Charakter
eines Turmes als Sexualsymbol zusammenhängt. Es ist deshalb weit mehr als
nur wünschenswert gewesen, daß Grawe u.a. mit ihrem Buch beigetragen haben,
die Psychotherapie auf ihre wissenschaftliche Grundlage zu stellen und sich
als das zu definieren, was sie tatsächlich sein kann: eine empirisch orientierte,
psychologische Heilkunst ohne Gebetbuch, welches die Aussicht auf die Realität
versperrt.
Es ist das einzigartige Verdienst der Forschergruppe um Klaus Grawe, mit
dem Ergebnis ihrer jahrzehntelangen Arbeit einen nicht hoch genug zu würdigenden
Beitrag zu einer empirisch orientierten Psychotherapie und zur Veränderung
einer "weder ethisch noch volkswirtschaftlich vertretbar" erscheinenden
Situation (S. 1) geleistet zu haben. Dafür und für dieses aus diesem Grunde
eminent wichtige Buch ist ihnen zu danken. Das Buch benötigt keine Kaufempfehlung,
es ist der preiswerteste Überlebensratgeber für Psychotherapeuten und deren
institutionelle Vertragspartner.
Literaturverzeichnis
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Veröffentlicht am 01.05.1994.
Text aus:
Luchmann,
Dietmar: Heilkunst ohne Gebetbuch — Empirische Psychologische
Therapie [Buchbesprechung: Grawe, Klaus; Donati, Ruth; Bernauer,
Friederike: Psychotherapie im Wandel. Von der Konfession zur Profession.
Göttingen: Hogrefe-Verlag, 1994.] Verhaltenstherapie & psychosoziale
Praxis 26 (1994) 231-241.
Vers. 1994.05.01: Buchrezension – Luchmann über Klaus Grawe, Psychotherapie im Wandel